Mein Weg zurück
Kapitel 1: Die Beerdigung
Ich schreckte aus dem Schlaf. Schon wieder ein Albtraum.
Ich schaute auf meinen Wecker. Es war drei Uhr nachts am 12. Mai. Seufzend legte ich mich zurück in die Kissen. Plötzlich bemerkte ich, dass ich einen trockenen Hals hatte. Also ging ich in die Küche und trank ein großes Glas Wasser. Es war angenehm kühl.
Dann schlich ich so leise wie möglich in mein Zimmer zurück.
Ich bemerkte, dass ich um 2:03 Uhr eine SMS bekommen hatte. Sie war von meiner besten Freundin Sarah:
>>Hi Linda!
Wie geht’s dir?
Soll ich heute wirklich mitkommen?
Hab dich lieb
Sarah<<
Ich tippte schnell eine Antwort:
>>Natürlich sollst du heute kommen!
Wir sehen uns um zwei bei mir.
Ich dich auch
Linda<<
Warum wollte sie auf einmal nicht mehr kommen? Es war mir wichtig, dass sie heute für mich da war. Sie fragte mich ständig, wie es mir ginge. Na ja, wie schon?
Schlecht.
Vor einer Woche war meine Mutter bei einem Autounfall gestorben. Wir wohnten zwar in Meersburg am Bodensee, einer kleinen Stadt, aber trotzdem wusste es jeder.
Das Schlimmste war für mich, in die Schule zu gehen. Alles starrten mich an und meine Freunde beäugten mich immer so komisch, als ob ich gleich einen Anfall oder so kriegen würde.
Nach außen gab ich mich eher unbeteiligt und sprach nur, wenn es nötig war. Doch in mir war eine völlige Leere, wie ein klaffendes, schwarzes Loch, das alles verschlang.
Wenn ich aus der Schule kam, schloss ich mich oft in meinem Zimmer ein, blätterte in alten Fotoalben und hörte eher deprimierende Musik. Nicht einmal mit Sarah hatte ich richtig darüber gesprochen. Sie mied das Thema. Vielleicht fürchtete sie sich davor.
Und heute war es soweit: Die Beerdigung. Ich hatte Sarah gebeten zu kommen.
Ich legte mich wieder ins Bett, es würde auch so schon ein harter Tag werden. Ich schlief mit Tränen in den Augen ein. Wie sollte es bloß weitergehen?
Um neun Uhr weckte mich mein Vater. Er lächelte nicht, so wie er es sonst immer tat. Seine freundlichen, grünen Augen waren rot und leicht geschwollen. Er hatte also wieder die ganze Nacht geweint. Sein schwarzes Haar war ganz verstrubbelt. Er litt sehr darunter, dass Mom tot war.
„Morgen, Ben.“
Ich nannte ihn schon seit einigen Jahren bei seinem Vornamen. Es war eher eine freundschaftliche Beziehung. Dieses Vater-Tochter-Getue gefiel uns beiden nicht.
„Linda, du siehst irgendwie nicht gut aus.“, sagte er und versuchte zu lächeln.
„Ich habe nur nicht so gut geschlafen.“
„Das legt sich wieder. Elena schläft auch schon wieder die ganze Nacht durch.“
Elena war meine kleine Schwester. Sie hatte langes blondes Haar und blaue Augen und sah ganz anders aus als Mom. Ich komme eher nach ihr, mit meinen braunen Augen und meinen braunen Haaren.
Ich kann gar nicht ganz glauben, dass sie schon über Moms Tod hinweg ist, sie ist immerhin schon dreizehn und müsste es eigentlich verstehen. Bei einer acht- oder neunjährigen wäre das etwas anderes…
„Kannst du Elena bitte wecken? Es gibt Frühstück.“
„Okay.“
Widerwillig stand ich auf, zog meinen Bademantel an und ging in Elenas Zimmer.
„Elena:“, flüsterte ich beugte mich über sie.
„Hm?“
„Frühstück ist fertig. Komm, steh auf. Heute kannst du nicht verschlafen!“
„Jaja…“, murmelte sie.
Ich ging in die Küche und setzte mich an den gedeckten Tisch. Ben war nicht da.
Ich schmierte mir ein Marmeladenbrötchen und trank einen Schluck Kakao. Ben wollte mich immer überreden, Kaffee zu trinken, um nicht immer so müde zu sein, aber Kaffee schmeckte einfach furchtbar!
Elena kam hereingeschlurft, ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Wir warfen uns einen Blick zu, sagten aber nichts. Sie schmierte sich ebenfalls ein Brötchen.
„Linda?“, fragte sie mich. Ich schaute auf.
„Kommt Sarah heute mit?“
„Ja. Wieso?“
Sie winkte ab. „Ach… Nicht so wichtig.“ Doch ich hielt es für wichtig.
Sie zögerte. „Jan wollte eigentlich mitkommen. Aber er hat gestern abgesagt.“
„Oh.“ Ich war überrascht. Jan war Elenas bester Freund, sie waren unzertrennlich. Ich hatte mitbekommen, dass auch Elena von ihren Schulkameraden schief angesehen wurde, seit Mom tot war. Doch warum Jan plötzlich so komisch war, verstand ich nicht. Er war fast täglich hier oder Elena bei ihm.
„Ehrlich gesagt, distanziert er sich ziemlich von mir.“, gab sie zu.
„Wieso das denn?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“
„Rede mit ihm.“
„Ja.“, seufzte sie. „Das wäre wohl das Beste.“
Dann kam Ben.
„Na, ihr Beiden. Räumt ihr bitte den Tisch ab, wenn ihr fertig seid? Ich muss noch die Blumen abholen.“
Wir nickten.
Ben ging zum Blumenladen und Elena und ich räumten den Tisch ab.
Schließlich schnappte ich meine schwarze Hose und meine Bluse und ging ins Bad.
Als wir auf den Parkplatz zum Friedhof fuhren, waren alle anderen schon da. Sarah saß neben mir und hielt meine Hand. Sie war wirklich gekommen.
Wir gingen zur Trauerhalle.
Es war ein sonniger und warmer Tag. Solche Tage hatte Mom geliebt.
Ich sah mich um. Außer Elena, Ben und mir waren noch Tante Mia, Onkel John und meine Cousins Tom und Henry gekommen. Ich hatte die zwei schon jahrelang nicht mehr gesehen. Sie haben sich sehr verändert.
Tom, der fünfzehn Jahre alt war wie ich, hatte sich Muskeln antrainiert und sein blondes Haar umrahmte strähnig sein Gesicht.
Mir war noch nie aufgefallen, dass er tiefblaue Augen hatte. Jetzt stachen sie im Sonnenlicht hervor.
Sein 13-jähriger Bruder Henry sah aus wie ein typischer Streber. Aber das würde ich ihm natürlich nie sagen. Vielleicht irrte ich mich auch. Sein schwarzes Haar war ordentlich gekämmt und er trug eine runde Brille. Allerdings wirkte die rot-schwarz gestreifte Krawatte lächerlich.
Sarah, die sich bei mir eingehakt hatte, flüsterte: „Pst! Wer ist denn der gutaussehende, blonde Junge mit den süßen, blauen Augen?“
„Das ist mein Cousin Tom. Er wechselt wahrscheinlich bald auf unsere Schule. Aber lass uns später darüber reden.“, sagte ich, als ich die Trauerhalle erblickte.
Alle hatten murmelnd miteinander gesprochen, doch als wir das Gebäude betraten, verstummten wir.
Ich hörte kaum zu, als der Pfarrer vor dem Sarg stand, den Segen und sein Mitgefühl aussprach. Schließlich sprachen wir noch gemeinsam das „Vater Unser“ und standen auf.
Vier schwarz gekleidete Männer hoben den braunen Holzsarg hoch, der mit herrlichen roten und weißen Rosen geschmückt war. Langsam liefen sie los, wir alle hinterher. Das schwarze Loch in mir wurde größer und ich spürte, dass es mich fast auffraß. Nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie es den Anderen erging, wusste ich nicht und ich wollte es auch gar nicht wissen…
Wir waren am Grab angekommen. Das ausgeschaufelte Loch erinnerte mich an das Loch in mir.
Wir versammelten uns um das Grab. Noch einmal sprach der Pfarrer. Dann wurde der Sarg hinuntergelassen.
Ben hatte jedem eine gelbe Rose gegeben. Mom liebte gelbe Rosen. Jeder von uns ging nacheinander zum Grab und legte die Rose hinein.
Sarah begleitete mich.
„Leb wohl, Mom. Ich liebe dich.“, schluchzte ich und warf die Rose hinein, Sarah ebenfalls.
Wir blieben noch ein paar Minuten stehen, bevor wir zurück zum Parkplatz gingen.
Alle kamen mit zu uns nach Hause. Ben hatte gestern extra noch zwei Kuchen gebacken, das heißt, er hatte Rezepte herausgesucht und ich backte. Zusammen saßen wir am Küchentisch, aßen Kuchen und tranken Kaffee und Kakao.
Zuerst sprach niemand, doch nach einigen Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, brach Tante Mia das Schweigen.
„Tom hat übrigens die Zusage für den Schulwechsel.“
„Das ist toll.“, sagte Ben unbeteiligt.
Keiner schien die Beerdigung ansprechen zu wollen, also sprachen die Erwachsenen über Politik.
Das langweilte mich und Sarah offenbar auch, denn sie stupste mich an und fragte leise, ob wir nicht in mein Zimmer gehen wollten.
„Ben?“, unterbrach ich die Unterhaltung. „Dürfen Sarah und ich aufstehen?“
„Natürlich.“, erwiderte er.
Doch bevor wir zur Tür kamen, sprang Elena auf und verschwand in ihrem Zimmer. Ben wollte aufstehen, doch ich hielt ihn auf.
„Ich mache das schon.“
Sarah schickte ich schon einmal in mein Zimmer, bevor ich zu Elena ging.
Sie weinte nicht. Sie stand nur am Fenster und sah nach draußen.
Ihr Zimmer war ungewohnt ordentlich. Auf ihrem Bett lag die weiße Tagesdecke, alle ihre Klamotten, die immer herumlagen, hingen im Kleiderschrank. Die Tulpen und der Bambus hatten genügend Wasser und standen in einer sauberen Vase auf der Kommode.
Ich trat neben sie ans Fenster.
„Elena? Was ist los?“
Sie antwortete nicht.
„Ist es wegen Jan?“
Langsam nickte sie.
„Hör zu. Morgen ist doch wieder Schule. Rede mit ihm. Und dann kannst du zu mir kommen. Dann sehen wir mal, wie es weitergeht.
„Okay.“, sagte sie und umarmte mich.
Als ich in mein Zimmer kam, saß Sarah schon auf meinem Bett. Ich hatte eine weiße Tagesdecke, wie Elena. Mir fiel auf, dass ich heute Morgen den weiß blauen Vorhang nicht geöffnet hatte. Also öffnete ich ihn und das Sonnenlicht fiel wie ein heller Schleier in mein Zimmer.
Auf meinem Schreibtisch stapelten sich Schulbücher und Hefte, mein hohes Bücherregal war mit Liebesromanen und Fantasybüchern vollgestopft und in der Ecke türmten sich Klamotten und Taschen.
„Alles okay mit Elena?“, fragte Sarah.
„Es ist wegen Jan, aber das wird schon.“
Sarah nickte. Sie wirkte nervös. „Und was ist nun mit Tom?“
Ich lächelte, das erste Mal heute. „Wieso? Stehst du auf ihn?“
Sie zuckte mit den Schultern. Ich hoffte, dass es nicht so war. Wenn sich Sarah verliebte oder auch nur einen süßen Jungen sah, konnte ich mir die wochenlangen und beinahe unerträglichen Schwärmereien anhören.
„Wie ist das an seiner Schule passiert?“, fragte sie schließlich.
Ich verdrehte die Augen. Aber ich musste ihr wohl die Geschichte erzählen. Ob jetzt oder irgendwann anders.
„Ben hat es Elena und mir vor einigen Wochen erzählt:
An Toms Schule gibt es eine Gang. Sie machen richtig gefährliche Sachen: sie klauen, terrorisieren Mitschüler und sie haben das Feuer gelegt, das die Schule niederbrannte. Angeblich. Jeder glaubt oder eher jeder weiß, dass sie es waren, aber es gibt keine Beweise. Also nicht schuldig.
Die Gang nennt sich die >>Blackhawks<<, schwarze Falken. Überall haben sie es hingesprüht. Jeder, der sie sieht, macht einen Bogen um sie.
Bis die Schule wieder betretbar ist, dauert es noch Monate oder sogar Jahre! Deshalb müssen sich alle Schüler eine andere Schule suchen.“
Sarah starrte mich ungläubig an.
„Das Schlimmste kommt erst noch! Toms Schule ist in Friedrichshafen und wenn es wirklich schlecht läuft, kommen die >>Blackhawks<< vielleicht an unsere Schule!“
Sarah schlug sich die Hände vor den Mund.
„Aber… Was ist, wenn die hier auch soviel Unruhe stiften?!“
Plötzlich klopfte es an der Tür und Sarah versuchte, sich zu beruhigen.
„Herein.“, sagte ich.
Es war Tom.
„Hey, Mädels. Ich dachte, ich komme mal vorbei.“ Wir starrten ihn an. Doch ziemlich unterschiedlich. Ich betrachtete ihn mit einer Mischung aus Nervosität und Langeweile. Sarahs Augen dagegen klebten geradezu an Tom.
„Okay, okay.“, grinste er. „Die Erwachsenen wollten uns loswerden. Henry ist bei Elena.“
Sarah und ich grinsten uns an. „Komm doch rein.“, bat ich ihn höflich. Er schloss die Tür und setzte sich zu uns aufs Bett.
Sarah wollte etwas zu ihm sagen, doch ich hob eine Augenbraue und sie schloss den Mund wieder.
Ich war froh, etwas abgelenkt zu sein, aber die >>Blackhawks<< waren keine gute Abwechslung. Also holte ich ein paar Fotoalben von Mom hervor, die wir uns ansahen. Ich erzählte zu fast jedem Bild etwas und manchmal lachten wir sogar.
Nach ein paar Stunden mussten Tom und Henry mit ihren Eltern nach Hause. Etwas später ging auch Sarah. Sie umarmte mich und flüsterte: „Alles wird wieder gut!“
-Ende Kapitel 1-
(c) Daniela G. 2009
Kapitel 2 - Eine böse Überraschung
Mein Wecker klingelte. Es war sechs Uhr. Obwohl ich – erstaunlicherweise – die ganze Nacht durchgeschlafen hatte, war ich todmüde. Widerwillig stand ich auf und ging ins Badezimmer.
Ich drehte den Wasserhahn auf und ließ das Wasser in meine Hände plätschern. Ich konnte mein Spiegelbild sehen. Es sah traurig aus. Ich wollte es nicht mehr länger sehen und klatschte mir das Wasser ins Gesicht.
Ich zog mich so schnell wie möglich an und kämmte meine Haare, die mit leichten Locken auf meine Schultern fielen.
Ben saß schon am Frühstückstisch, als ich in die Küche kam. Er sah übernächtigt aus.
„Morgen.“
Er nickte mir kurz zu. „Heute kommt Tom also an deine Schule.“
„Ehrlich?“, fragte ich. „Ich dachte, erst in ein paar Wochen.“
„Nein. Mia will nicht, dass er soviel versäumt. Da er nachmittags immer mit Freunden unterwegs ist, macht er kaum etwas für die Schule. Das könnte er niemals aufholen.“, erklärte er mir.
Ich runzelte die Stirn. Wenn ich mit meinen Freunden unterwegs war, dann hatte ich auch kaum Zeit für die Schule. Aber man kann sie ja nicht immer vor sich herschieben.
Während Ben sprach, kam Elena in die Küche geschlurft. Sie wirkte unruhig. Ich wollte sie darauf ansprechen, doch ich hob es mir für den Schulweg auf.
Schweigend frühstückten wir, dann holten Elena und ich unsere Rucksäcke und machten uns auf den Weg. „Tschüss!“, rief Ben uns noch hinterher.
„Was ist los?“, fragte ich, macht aber keine Anstalten, mein Tempo an ihres anzupassen. Doch schon in dem Moment, in dem ich die Frage stellte, wusste ich die Antwort: Jan.
„Bleib ruhig, Elena. Rede einfach mit ihm und mach’ dir keine Sorgen.“
„Ja ja.“, erwiderte sie genervt.
„LINDAAAAAAAAAA!“, rief plötzlich jemand aus einer Seitenstraße.
„WAAAAAAAAAAAAAAAAARTE!!!“
Sarah kam angerannt. Ihr hellbraunes Haar flatterte im Wind.
„Hey, Sarah.“, begrüßte ich sie.
„Hi!“, quietschte sie atemlos.
Langsam liefen wir weiter. Sogar Elena lief in unserem Tempo. Ich sah auf die Uhr. In fünf Minuten begann der Unterricht.
„Wir müssen uns beeilen.“, sagte ich und lief schneller.
Sarah sah mich von der Seite interessiert an. Ich wusste genau, worauf sie hinaus wollte und ignorierte ihren Blick.
Elena hatte im anderen Gebäude Unterricht, deshalb trennten wir uns.
Unsere Schule, kastenförmig und grau, bestand aus drei Gebäuden:
Eines für die 5.- und 6.-Klässler (die Unterstufe), eines für die 7.- bis 10.-Klässler (die Mittelstufe) und eines für die 11.- bis 13.-Klässler (die Oberstufe). Jedes Gebäude war für die jeweilige Altersgruppe eingerichtet. Die Sporthalle war letzten Sommer renoviert worden und bekam eine völlig neue Ausstattung an Sportgeräten.
Sarah und ich besuchten die 10. Klasse, Elena die 8. Klasse.
Herr Eichinger, unser Klassenlehrer, war noch nicht da.
„Glück gehabt, ihr zwei.“, sagte Christian. Er war ein Freund von mir und Sarah. Seine braunen Haare standen wie immer in alle Richtungen ab. Seine braunen Augen sahen ziemlich müde aus.
„Jaja, Chris. Schon wieder zu viel gefeiert?“, neckte ihn Sarah, die es auch bemerkte. „Ehrlich gesagt, nein. Meine Mutter hat mich zum Babysitten verdonnert.“ Er verzog das Gesicht.
Sarah lachte laut auf.
Ich hörte kaum zu.
Wir huschten alle auf unsere Plätze, als Herr Eichinger hereinkam. Und er war nicht alleine.
„Guten Tag.“, sagte er gut gelaunt.
„Morgen.“, brummten wir wie gewohnt.
Plötzlich gab Sarah ein lautes Quieken von sich.
Alle starrten sie an, auch ich.
„Ist alles in Ordnung, Fräulein Berger?“, fragte Herr Eichinger mit hochgezogenen Brauen.
Sie nickte.
Ich sah nach vorne und erkannte, warum Sarah gequiekt hatte.
„Ab heute habt ihr einen neuen Mitschüler. Stelle dich doch bitte vor.“
„Mein Name ist Tom. Ich bin vor kurzem auf die Schule in Friedrichshafen gegangen. Na ja, was dort los war, wissen vielleicht einige von euch.“, erklärte er.
Mir stockte der Atem. Ausgerechnet in meine Klasse muss er kommen? Jetzt darf ich mir immer und immer wieder das Geschwärme von Sarah anhören - und das im Unterricht.
Herr Eichinger bat ihn, sich auf den freien Platz zu setzen – vor mir uns Sarah! Na super…
Er grinste uns breit an. „Hey, ihr zwei Hübschen.“
Ich rollte die Augen und Sarah lächelte im verträumt zu.
„Wer würde Tom nach dem Unterricht die Schule zeigen?“, fragte Herr Eichinger.
Noch bevor er zuende gesprochen hatte, streckte Sarah den Finger in die Luft und rief: „Das mache ich!“
Alle lachten.
Herr Eichinger wusste nicht, was hier los war und wandte sich an mich.
„Linda, du kennst Tom doch schon. Wie wäre es, wenn du ihm die Schule zeigst?“
Bevor ich etwas entgegensetzen konnte, fügte er noch hinzu: „Vielen Dank. So und nun zu Deutsch.“
Sarah ließ enttäuscht die Hand sinken.
„Willst du ihn herumführen?“, fragte ich sie.
„Was? Alleine? Bist du irre? Ich komme mit, aber du redest über die Schule.“ Ich seufzte genervt. Doch schließlich nickte ich.
„Danke, du bist ein Schatz!“, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. Sie winkte Tom zu uns.
Dann traten wir hinaus auf den Gang.
„Also. Das ist unser Klassenraum, Raum Nummer 12. Merke es dir gut, denn ich werde nicht dein Babysitter sein!“, zischte ich. Er hob unschuldig die Schulten.
Wir, oder eher ich, führte ihn durch das Gebäude der Mittelstufe. Ich zeigte ihm das Theater, die Sporthalle, die Cafeteria und die Fachräume Biologie, Chemie, Physik, Kunst und Musik, während Sarah neben uns herlief und Tom anhimmelte. Als wir endlich fertig waren und ich alle seine so kurz wie möglich beantwortet hatte, trennten wir uns. Tom war für seine Zeit an unserer Schule in eine WG gezogen.
Als er außer Sichtweite war, war Sarah nicht mehr zu bremsen.
Ich hörte kaum zu und verstand nur etwas von „süßen Augen“, „wunderschönes Lächeln“ und „männliches Aussehen“.
Ich schüttelte mich. Wenn sie von meinem Cousin sprach, hörte es sich an, als wäre er ein Gott. Zum Glück musste sie jetzt in ihre Straße einbiegen.
„Ben? Elena?“
Ich legte meine Jacke und meinen Rucksack in mein Zimmer und zog die Schuhe aus. Dann ging ich zu Elena.
Sie saß auf ihrem Bett und kritzelte etwas auf ein Blatt Papier.
„Elena? Alles in Ordnung? Wo ist Ben?“
„Ja ja, Er war vorhin auch nicht da!“, brummte sie.
Ich verdrehte die Augen und seufzte.
„Jan war heute nicht da. Genauso wie Nina und Natalie.“
Sie kritzelte so fest auf das Papier, dass es zerriss.
„Was hat das denn mit Nina und Natalie zutun?“
Nina und Natalie waren die totalen Oberzicken. Sie gaben in den siebten Klassen den Ton an.
„Ich hätte es wissen müssen.“, sagte sie. „Sie sind hinter Jan her. Außerdem wissen sie, dass ich sonst niemanden habe.“
„Ach, komm.“, versuchte ich sie aufzumuntern. „Vielleicht schwänzen die Zwei und Jan ist einfach nur krank.“
Ich hörte die Tür und ging in den Flur. Es war Ben.
„Hi.“, begrüßte ich ihn tonlos. „Wo warst du?“
„Ich war bei Tante Mia und Onkel John.“, sagte er. „Es gibt ein Problem mit Henrys Internat. Na ja, kein Problem mit ihm, aber eine Mitschülerin hat sich auf dem Campus verletzt und du kennst ja deine Tante. Sie ist total ausgeflippt aus Angst, Henry könnte es auch so ergehen. Er ist doch ihr kleiner Engel. Er ist so schlau, dass er schon an die Uni gehen könnte.“
Ich rümpfte die Nase. Ben wechselte schnell das Thema.
„Ist ja auch egal.“, sagte er. „Wollen wir eine Pizza essen?“
„Nee, keinen Hunger.“
„Elena?“, rief Ben.
„Nein!“, schrie sie und wir ließen sie lieber in Ruhe.
Plötzlich klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab.
„Linda Parker.“, meldete ich mich. Unser Nachname stammte aus dem englischsprachigen Raum, weil Bens Familie in Amerika lebte. Apropos seine Familie.
„Hello Linda, my dear.“ Es war meine Großmutter Rose Parker.
„Hi.“, sagte ich überrascht. Sie hatte sich lange nicht mehr gemeldet.
„Is Ben there?“, fragte sie.
„Yes.“, antwortete ich und gab den Hörer an Ben weiter. Dann ging ich in mein Zimmer.
Mom hatte ein ziemlich gutes und erfolgreiches Leben geführt. Nachdem sie die Schule mit gutem Abi abschloss, studierte sie Journalismus. Sie schrieb so gute Artikel, dass sie bald für eines der besten Magazine in Deutschland arbeitete. Sie schrieb sogar zwei Jahre für die amerikanische „Runway“, ein sehr erfolgreiches Modemagazin.
Schließlich wurde sie mit mir schwanger und musste für einige Zeit aufhören. Dann kam sie zurück und war erfolgreicher denn je. Sie gründete ihr eigenes Magazin, „Swing“. Es verkaufte sich gut. Nach ein paar Jahren wurde sie mit Elena schwanger. Zum Glück hatte sie eine gute Vertretung und als sie ihren Job wieder aufnahm, lief alles genauso wie vorher.
Doch bald änderte sich alles. Ein anderes Magazin begann, „Swings“ Artikel zu klauen. „Swing“ ging pleite und Mom begann, bei Onkel John im Restaurant zu arbeiten. Dort verdiente sie nicht sehr viel, aber es reichte, weil Ben ja auch noch einen Job hatte.
Bis zu ihrem Tod arbeitete sie dort.
Ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich nicht hörte, wie es an die Tür klopfte.
„Wer ist da?“, fragte ich.
„Ich bin’s. Sarah!“, trällerte die Stimme. Ich verdrehte die Augen.
„Komm rein.“, brummte ich. Sie kam hereingeflitzt und begann sofort aufgeregt zu erzählen.
„Linda, du wirst nicht glauben, was mir passiert ist! Auf dem Heimweg habe ich Tom gesehen. Er kam zu mir und wir haben uns unterhalten.“ Ihre Augen leuchteten vor Aufregung.
„Wusstest du, dass er im Fitnessstudio trainiert und raucht?“
Ich seufzte. Natürlich wusste ich das. Schließlich war er mein Cousin. Aber ich ließ ihr den Spaß.
Sie plapperte und plapperte. Geschlagene zehn Minuten später fragte sie mich, ob ich wusste, wo Toms WG war.
„Nein.“, antwortete ich gelangweilt.
Sie schien meinen Ton nicht zu bemerken, denn sie sprach einfach weiter.
„Er wohnt nur eine Straße entfernt von mir!“, schrie sie fast.
Ben kam hereingestürmt.
„Was ist passiert?“, fragte er aufgeregt.
„Nichts.“ Nun waren meine Nerven am Ende.
„Aber es hat doch jemand geschrieen?!“
neben mir kicherte jemand.
„Tut mir leid, Herr Parker. Es wird nicht wieder vorkommen.“, entschuldigte sich Sarah.
„Na dann.“, sagte Ben und ging nach draußen.
Ich versuchte, Sarah loszuwerden.
„Ach herjee.“, sagte ich übertrieben. „Es ist ja schon halb vier. Musst du nicht langsam los?“
Sie sprang auf. „Du hast Recht. Bis morgen!“ Und schon war sie verschwunden.
Meine kleine Schwester war immer noch mies gelaunt wegen Jan. Also konzentrierte ich mich auf den Bürgersteig.
Kurz vor der Schule bemerkte ich zwei Schatten.
Bitte nicht, dachte ich – vergebens. Ich hob den Kopf und blickte geradewegs in die grinsenden Gesichter von Sarah und Tom.
„Hey.“, brummte ich nur.
„Guten Morgen, liebes Cousinchen!“, sagte Tom und grinste immer noch.
Cousinchen? Der war wohl gegen eine Laterne gerannt!
Schon bald sollte ich erfahren, was hier vor sich ging – jetzt.
Ich ahnte es schon und das zog meine Stimmung in den Keller. Ich schloss die Augen, doch was würden sie dann von mir denken? Also öffnete ich sie wieder.
Sarah und Tom lachten, als sie mein Gesicht sahen.
Doch das, was ich sah, war keineswegs zum Lachen.
Sarahs Hand war förmlich an Toms Hand geklebt.
„Wir sind zusammen!“, quietschte Sarah.
Das habe ich auch schon gemerkt!
„Ihr kennt euch doch noch gar nicht.“, erinnerte ich die Beiden.
„Liebe.“, trällerte Sarah. „Bei der Liebe auf den ersten Blick muss man sich nicht kennen. Das holen wir noch nach. Stell dir das nur mal vor! Vielleicht werden wir bald verwandt sein!“
Oh Gott! Die Vorstellung, dass Sarah, meine beste Freundin Sarah und mein Cousin heirateten… Ich schüttelte mich.
Ich musste hier weg. Das war ja nicht auszuhalten…
„Ich muss mal aufs Klo.“, presste ich aus meinen zusammengebissenen Zähnen hervor und lief los. Ich drehte mich nicht um.
Ich rannte in die erstbeste Toilettenkabine und schloss ab. Den Deckel klappte ich schnell herunter, bevor ich mich darauf niederließ.
Meine Beine wollten mich nicht mehr halten. Waren denn alle verrückt geworden?
Elena drehte am völlig am Rad, weil Jan wahrscheinlich einen Tag krank war.
Meine beste Freundin und mein Cousin waren ein Paar und sprachen vom Heiraten, obwohl sie sich kaum kannten!
Die Schulklingel riss mich aus meinen Gedanken.
Mist! Ich kam zu spät.
„Ist schon gut, Linda. Setz dich, bitte.“
Nachdem ich mich neben die hibbeligen Sarah gesetzt hatte, fuhr er fort.
Nun bemerkte ich die zwei Jungen, die, in Lederjacken gekleidet, vor der Tafel standen.
„Das sind eure neuen Mitschüler, Pascal und Nils. Sie besuchten, wie Tom, die Schule in Friedrichshafen. Setzt euch.“, sagte er und wies auf einen Platz am Fenster und einen an der Wand.
Warum setzte er sie soweit auseinander?
Sarah stupste mich an und deutete hinter sich.
Ich drehte mich um und blickte Tom direkt ins Gesicht.
Er lächelte nicht und mir fiel auf, dass auch Sarah nicht lächelte, was sehr ungewöhnlich war.
„Was ist?“, fragte ich neugierig.
„Das sind sie.“ Sarah zitterte.
„Wer ist was?“ Ich verstand nicht, worauf sie hinaus wollte.
Tom antwortete mir stattdessen.
„Pascal und Nils. Sie gehören zu den >>Blackhawks<<.
-Ende Kapitel 2-